Das kluge Käthchen.

Eine kleine Geschichte von Paul Bliß (Berlin).
in: „Stralsundische Zeitung, Sonntagsbeilage” vom 07.05.1899


An einem frostklaren hellen Wintertag kam Käthchen auf Besuch ins Haus der Tante Marie. Sie hatte sich einen Tag vorher telegraphisch angemeldet, und sie wartete gar nicht erst die Antwort ab, weil sie ja wußte, daß die gute Tante stets ein gastfreies Haus hielt, sondern sie fuhr kurz entschlossen nach der Residenz. Und nun war sie da, das lustige kleine Mädel mit den rothen Backen und den lieben klugen Augen, und fiel der guten Tante Marie lachend um den Hals, indem sie rief: „Wenn ich Dir ungelegen komme, Tantchen, sag's nur gerade heraus, fort gehe ich trotzdem nicht!”

„Aber Närrchen,” sagte Tante Marie heiter, „Du kommst mir immer gelegen,” — dabei küßte sie den kleinen Wildfang herzlich ab.

„Und weißt Du auch, weshalb ich so urplötzlich gekommen bin?” fragte der Schelm mit übermüthig lachenden Augen.

„Das zu errathen ist doch garnicht schwer, — Du willst Dich eben wieder mal ganz gehörig austanzen, und da es bei Euch daheim, in der Einsamkeit, nichts zu tollen giebt, deshalb kommst Du zu uns.” Lächelnd strich die alte Frau dem kleinen Wildfang über die widerspenstigen braunen Löckchen. Käthchen nickte mit parodistischem Ernst: „Nein Tantchen, Du weißt auch gleich Alles!”

„Schelm Du!” rief Tantchen und küßte sie aufs Neue. In diesem Augenblick trat Fritz ein, Tante Maries einziger Sohn. Als er die kleine Kousine erschaute, war er einen Moment lang ganz verblüfft: seit 4 Jahren hatte er sie nicht gesehen, — damals war sie ein kleines Mädchen gewesen, heut war sie eine liebliche Jungfrau. Etwas verlegen reichte er ihr die Hand und begrüßte sie ein wenig zaghaft.

Käthchen schüttelte ihm derb die Hand und rief belustigt: „Lieber Fritz, Deiner harren große Dinge! ich will in die Berliner Gesellschaft kommen, und Du sollst mein Ritter sein!” Fritz lächelte und entgegnete: „Einführen will ich Dich gern, aber ich muß Dir schon jetzt sagen, daß ich ein schlechter Galan bin, denn ich habe gar kein Talent zum Salonhelden.”

„Oh, das werde ich Dir schon Alles beibringen,” rief die Kleine lachemd, „für so etwas habe ich eine ganz eigenartige Lehrmethode!” — — —

Von dem Tage an, da das lustige kleine Fräulein eingezogen war, hatte das Haus der Tante Marie ein ziemlich verändertes Aussehen erhalten. Der kleine Tollkopf steckte Alles an mit seinem lustigen Lachen und seinen übermüthigen Späßen, und selbst die alte Hanne, eine ernste, fast finstere Person, meinte lächelnd: „Das Fräuleinchen stellt Alles auf den Kopf, wenn das man ein gutes Ende nimmt.”

Auch mit dem Vetter Fritz war eine ganz seltsame Veränderung vorgegangen. Dieser sonst so stille Mensch, der stundenlang über seinen Büchern brüten konnte, stand nun wohl ein Dutzend Mal am Tage vor dem Spiegel und prüfte sorglich sein Aussehen, — ob der Kragen gut saß, ob das Hemd auch blendend sauber sei, und so achtete er auf alle derartigen Aeußerlichkeiten, deren er vordem nie gedacht hatte; ja oft kam es sogar vor, daß er vor seinen geliebten Büchern saß und nicht hineinsah, sondern träumend und grübelnd den Blick ins Weite schweifen ließ.

Das ganze Haus brachte der kleine Tollkopf in Aufruhr. den ganzen Tag lang sang und jubelte sie. Niemand war sicher vor ihren lustigen Streichen. Aber trotzdem hatte jeder sie lieb gewonnen.

Und dann nahte sich die Zeit des ersten großen Balles. Es war der berühmte Juristenball, auf den sich alljährlich viele hunderte jnunger Mädchen freuen.

Käthchens Toilette lag ausgebreitet auf zwei neben einander stehenden Stühlen, und mit glühenden Wangen und blitzenden Augen hielt die Kleine eine genaue Musterung ab. „Tantchen, ich werde großartig aussehen!” rief sie jubelnd.

Die alte Dame nickte nur und streichelte der Kleinen über das Haar.

Um diese Zeit war der Vetter Fritz fast nie daheim. Niemand wußte aber, wo er sich jetzt so oft aufhielt. Wunder auch! denn wer hätte wohl dem stillen Gelehrten zugetraut, daß er heimlich einen Tanzmeister aufsuchen und bei diesem einen Einzelunterricht nehmen würde? Und doch war es so! Der gute Fritz glaubte plötzlich entdeckt zu haben, daß seine Tanzkunst nur sehr mäßig sei und deshalb suchte er, kurz entschlossen, schnell noch seine Fähigkeit zu vervollkommnen, ehe die Zeit der großen Bälle begann. So wurde aus dem stillen Büchermenschen, der sonst nie in große Gesellschaften ging, nach und nach ein eleganter junger Mann, der sich nach der letzten Mode kleidete und in jeder Beziehung viel auf sein tadelloses Aeußere hielt. Der guten Tante Marie war dies schon längst aufgefallen, sie sagte aber nichts, weil sie den Grund für diesen Wechsel ihres Sohnes zu kennen glaubte, — und sie freute sich heimlich dazu, denn es war ja stets ihr stiller Wunsch gewesen, aus den Beiden ein Paar zu machen.

Eines Tages merkte auch Käthchen, daß der Vetter Fritz sich so sehr zu seinem Vortheil verändert hatte, und da sagte sie lachend zu ihm: „Fritz, Du bist eigentlich ein ganz fescher Kerl geworden!”

Der gute Junge wurde verlegen, beherrschte sich aber und sagte keck: „Als Dein Ritter darf ich doch keine traurige Gestalt abgeben!” So trieben sie Scherz und Possen, bis der ersehnte Ballabend herankam. Käthchen in ihrem duftigen Kostüm lenkte bald die Augen der Tänzer auf sich, und noch keine halbe Stunde war man da, als ihr bereits ein halbes Dutzend schneidiger junger Herren vorgestellt war, so daß sie keinen Augenblick zum stillsitzen kam. Fritz war darüber einigermaßen enttäuscht, denn er hatte sich die Sache doch etwas anders gedacht, — noch hatte er nicht ein einziges Mal mit der schönen Kousine tanzen können, weil sie immer von einem Arm in den anderen flog, — und er hatte sich so kindisch darauf gefreut, vor ihr mit seinem neuen Können zu paradieren!

Endlich nach qualvollem Warten, bekam er einen Walzer von ihr zugesagt. Er war überglücklich, als er das liebe Mädel im Arm hielt, und er konnte es nicht unterlassen, ihr ein paar zärtliche Worte zuzuflüstern. Aber Käthchen überhörte das und sagte lustig: „Nun möcht' ich nur wissen, was Dir noch zum Salonmenschen fehlt, Du tanzest gut und siehst tadellos glänzend aus, — was willst Du denn noch mehr?” Er war betroffen und erwiderte garnichts darauf.

Als sie endlich frühmorgens heimfuhren, fragte Tante Marie: „Sag mal, Käthchen, Du kanntest wohl den Leutnant Wallkoff schon, nicht wahr?”

Und da sagte sie ganz leichthin: „Ja, oberflächlich nur, er war früher mal in unserer Garnison.” Niemand antwortete etwas darauf, aber sowohl die Tante, wie auch Fritz dachten sich ihr Theil.

Am anderen Tage machte der Leutnant seinen Besuch. Die Tante behandelte ihn sehr freundlich, wie jeden ihrer Gäste. Käthchen trieb auch mit ihm Scherz und Possen. Und nur Fritz verhielt sich ein wenig reservirt. Als man wieder unter sich war, fragte Käthchen den Vetter: „Warum warst Du so still, Fritz? Gefällt Dir Wallkoff nicht?” Er aber antwortete ausweichend und lenkte das Gespräch bald auf ein anderes Thema über. — — —

Von dem Tage an hagelte es nur so mit den Einladungen zu den Bällen und Festlichkeiten, so daß die gute Tante Marie oftmals leise seufzte und dachte: was man so einem lustigen kleinen Mädel doch für Opfer bringen muß! Antürlich spielte Vetter Fritz bei allen diesen Festivitäten stets den Ritter seiner schönen Base, aber nie bekam er mehr als einen, höchstens zwei Tänze, und zu einem Gespräch zwischen ihnen kam es schon gar nicht, weil Käthchen stets von einem Schwarm junger Herren umgeben war. Und immer war es dieser kecke Leutnant Wallkoff, der vor allen Anderen bevorzugt wurde! Eines Tages sagte sich Fritz: entweder, oder! Alles verlieren, oder Alles gewinnen! aber nur diese Ungewißheit nicht! — Und da nahm er sich vor, der wilden kleinen Kousine einen Antrag zu machen. Er zog sich fesch und chik an, sprach sich tapfer Muth zu und trat mit einer schön einstudirten Rede vor Käthchen hin.

Aber die Kleine war klug: als sie seine feierliche Haltung sah, wußte sie sofort, was er vor hatte, und ehe er nur mit einem Wort sagte, was er wollte, war sie ihm bereits zuvorgekommen, indem sie schnell entschlossen aufstand und einen wichtigen Ausgang als Entschuldigung vorschützte. Und so wie diesmal, so entwich sie ihm nun immer, nie war er ein einziges Mal mehr mit ihr allein, denn immer wußte sie es so geschickt anzustellen, daß stets ein Dritter dabei war, so daß er nie zum sprechen kam. Der gute Fritz aber war geduldig. Er wartete einfach, denn einmal mußte ja der rechte Moment auch für ihn kommen. — — —

Gegen Schluß der Saison gab auch Tante Marie einen Hausball. Das ganze alte Haus war ausgeschmückt, für jedes Eckchen und Winkelchen hatte Käthchens Phantasie etwas Originelles ersonnen. Alles prächtig und festlich arrangirt, so daß man eines Erfolges sicher sein konnte. Mit glückstrahlenden Augen lief Läthchen umher, ihr war so froh zu Muth, daß sie die ganze Welt hätte umarmen können, die Vorahnung von etwas Wunderbarem lebte in ihrer Seele. Und ebenso, mit still verhaltener Freude ging Fritz umher, — heute oder nie! sagte er sich.

Um 8 Uhr nahm das Fest seinen Anfang, und schon eine Viertelstunde später war eine überaus glänzende Gesellschaft in dem alten Hause versammelt. Natürlich war auch Leutnant Wallkoff geladen und erschienen.

Kätchen war heute mehr denn je die Königin des Festes. Jeden Tanz machte sie mit und kaum ein paar Minuten kam sie zum sitzen. Endlich hielt es Fritz nicht mehr länger aus. Er mußte Gewißheit haben, darum ging er, jetzt einen Tanz von ihr zu erhaschen, und dann, wenn er sie im Arm hatte, wenn sie ihm nicht davon laufen konnte, dann wollte er die ernste, schwere Frage thun. So ging er, sie zu suchen. Aber er fand sie nicht, so eifrig er auch die Blicke umherschweifen ließ. Athemlos vor Angst durchsuchte er die Nebenräume, aber auch dort fand er sie nicht. Und endlich eilte er in den langen Glasbalkon, der zu einem Wintergarten umgewandelt war, und dort fand er sie, aber nicht nur sie allein, sondern auch den jungen feschen Leutnant fand er dort, und gerade in dem Moment, als er eintrat, schloß der junge Krieger Käthchen in seine Arme und küßte sie voll heißer Leidenschaft. Fritz stand wie festgebannt, er glaubte umsinken zu müssen, aber nur einen Augenblick blieb er, dann schlich er sich ungesehen und ungehört wieder hinaus und lief auf sein Timmer.

Eine halbe Stunde später trat das junge Paar zu Tante Marie hin, und Käthchen gestand ihr mit glückseligem Lächeln, daß sie sich eben verlobt hatten. Und die gute Tante lächelte verständnißinnig, küßte ihre Nichte und wünschte den beiden Liebesleuten Glück und Segen.

Später kam auch Fritz wieder zum Vorschein, jetzt aber hatte er seine Ruhe und Würde wiedergefunden, so daß auch er dem Pärchen Glück wünschen konnte.

Und am andern Morgen, als Tante, Fritz und Käthchen beim Kaffeetisch saßen, da begann der kleine Wildfang also zu sprechen: „Nun kann ich Euch ja auch sagen, weshalb ich so urplötzlich hier bei Euch auf Besuch gekommen bin, — nicht nur austanzen wollte ich mich, nein, ich wollte vor allen Dingen meinen alten lieben Freund Wallkoff wiedersehen, denn geliebt haben wir uns schon damals, als er noch in unserem Nest stand; damals aber meinte Papa, ich sei zum heirathen noch viel zu jung; nun aber, wo ich ihm mit einem fait accompli komme, nun kann er uns seinen Segen ja nicht mehr verweigern!”

Schweigend und bewundernd sah Fritz die kluge Base an. Auch die Tante lächelte dazu. Käthchen aber fiel der guten Tante um den Hals und rief: „Und Euch beiden lieben Menschen danke ich all mein Glück!” Da wandte sich Fritz ab, denn er merkte, daß ihm die Augen feucht wurden. — — —

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